Stell Dir bitte vor:
Einst lebten die Menschen in einem kleinen Dorf, das von einer Straße durchzogen war. An dieser befanden sich Geschäfte die alle Bedürfnisse der dort Lebenden abdeckten. Tagsüber pulsierte dort das Leben, abends herrschte lauschige Geselligkeit.
Diese Attraktionen zogen immer mehr Menschen aus dem Umfeld an, die sich hier ansiedelten. Manche von ihnen eröffneten ebenfalls ein Geschäft und bereicherten so das wachsende Dorf.
Irgendwann war die Hauptstraße ausschließlich eine Geschäftsstraße und Neueröffnungen verlängerten sie.
Sie wuchs und wuchs und mit ihr der Wohlstand und das Wohlergehen der Menschen.
Irgendwann war das Dorf zu einer Stadt, mit dieser immer noch attraktiven Einkaufs- und Lebensmeile, geworden.
Doch länger als lang kann und darf, ohne die Bummelgelüste der Konsumenten überzustrapazieren, eine Shopping- Straße nicht sein und so wucherten die Geschäfte auch bald in Seitengassen hinein. Und zwar – nicht unklug – entwickelte sich hier eine gewisse Spezialisierung. Da das Schuster- Viertel, dort die Schneider- Gasse. Es gab eine Fleisch- und Wurst- Meile und eine Konditoren- Straße.
Die Kinder es größten Schneiders maulten zwar, weil sowohl das Bäcker- Viertel als auch der Naschmarkt so weit von ihnen waren, doch die geschäftigen Eltern waren froh über die nahen Zubehör- Läden und die wachsende Zahl von, an Kleidung und Mode Interessierten die in ihre Gegend strömten.
Als unsere Schneiderkinder selbst Kinder hatten, dachte niemand mehr an das früher so Nahe und nun Entbehrte. Im Gegenteil, man freute sich über die wachsende Mode- Szene und übersiedelte weiter nach draußen, um einen größeren Betrieb zu eröffnen.
Auch die Kinder der zweiten Generation vermissten bald die alten Spielkameraden und alten Möglichkeiten. Doch als sie erwachsen waren und selber Kinder hatten vermisste wiederum niemand mehr das alte Leben, ja wusste nichtmal mehr etwas davon. Alles hier war ‚normal’ und gewohnt.
Die Stadt wuchs und wuchs und die einmal eingeschlagenen Spezialisierungen in alle Himmelsrichtungen mit ihr.
Nach vielen Generationen waren alle so tief in ihren Sackgassen und Vierteln eingewachsen bzw. wucherten noch weiter in die leere Peripherie, dass niemand sich mehr an die alte Hauptstraße erinnerte, in der das Lebens einst so bunt, die Versorgung so vielfältig, die Nächte so gesellig waren.
Da kam der jüngste, gerne grübelnde Spross unserer Schneider- Dynastie auf die vermeintlich völlig neue Idee einer ‚Gesellschaft der Vielfalt’.
Begeistert erzählte er seiner Familie, seinen Nachbarn und Freunden von seiner Vision, von einer nie gekannten Vielfalt. Doch er erntete nur Kopfschütteln und Unverständnis. „Was willst Du? Wir haben doch hier unsere Arbeit, unsere Kunden, unsere Familie und werden doch täglich vom fahrenden Kaufmann versorgt!“
„Aber wir könnten doch viel mehr Vielfalt haben! Spezialgeschäfte! Ein buntes Mit- und Durcheinander!“
Die Blicke wurden noch fragender. Wozu sollte das gut sein? Man hatte doch alles! Und außerdem, was dieser Visionär da von Süßigkeiten- Bäckern und Fleisch- Spezialiäten faselte … Soetwas gab es doch gar nicht! Man kannte doch seine Umgebung, also diese Welt. Da gab es nichts dergleichen. Man kann doch nicht die ganze Welt neu erfinden! Und auch in den Medien die doch ohnehin über alles berichteten, war doch auch nur über neue Schneider- Belange und nichts von irgend so einer dubiosen Vielfalt zu erfahren. Also kann es diese doch nicht geben.
Die Situation beruhigte sich wieder, selbst der Visionär hatte sich seine ‚Spinnereien’ irgendwann wieder ausreden lassen.
Bis, ja bis er in einer alten Truhe in einem uralten, vergilbten Familienalbum ein paar Fotos von der alten Hauptstraße fand, die sich in der Zwischenzeit natürlich weiterentwickelt hatte und weitergewachsen war.
Unser Visionär stellte einen Expeditionstrupp aus den ehemals Ungläubigen zusammen und sie marschierten Richtung Innenstadt.
Doch so lang sie auch gingen, sie sahen immer nur das was sie bereits kannten: Schneidereien, Mode- Shops, Schneiderzubehör- Läden, usw.
Irgendwann resignierten sie erschöpft: „Na? Reicht Dir das? Wir haben Dir doch gesagt, diese Deine Welt gibt es gar nicht! Wär’ ja auch zu verrückt!“.
Sie hatten sich in Generationen- langer Wanderschaft einfach schon zu weit von der Hauptstraße entfernt …
Irgendwann, nach weiteren Schneider- Generationen war das Textilviertel bereits zu weit vom Zentrum entfernt, die Spezialisierung zu weit fortgeschritten, um eine ausreichende Versorgung sicherzustellen. Die Konkurrenz war durch das lange Wachsen zu groß geworden, die Preise gefallen, die Gewinne geschmolzen und die Lebensqualität der Schneiderviertler am Boden.
Irgendwann werden sie wohl vereinsamt, mangelversorgt und vom Hauptstraßen- Leben vergessen, sein …
Die Hauptstraße aber pulsierte und entwickelte sich weiter und wuchs in die Länge, da immer neue Geschäftsideen auftauchten, die nach vorne drängten, während das mittlerweile Überflüssige am alten Ende der Straße vernachlässigt und zurückgelassen wurde.
Wir Zivilisationsmenschen befinden uns alle auch in eben dieser Schneider-, um nicht zusagen Sackgassen- Situation, während alle anderen Wesen sich auf der Hauptstraße weiterbewegen und entwickeln.
Wir wissen nichts mehr von alten Leben und Qualitäten, finden nichts mehr davon, soviel wir unser Umfeld auch absuchen, halten Visionäre, ob ihrer Extremität für verrückt und werden aussterben.
– Außer die paar Sackgassis, die doch noch zurückgefunden haben zur Hauptstraße und sich nun Payolis nennen 😉